Mittwoch, 23. September 2009

Osteopathie in der orthopädischen Praxis „Man kann Schmerzen mit einiger Übung fühlen“



Dr. Roger Seider ist Präsident der Deutschen Akademie für Osteopathische Medizin (DAOM), Mit-Herausgeber der „DO. Deutsche Zeitschrift für Osteo-pathie“ und Mitglied im Verband der Osteopathen Deutschland, VOD. Nach seinem Medizinstudium und seiner Facharztausbildung zum Orthopäden ab-solvierte er gleich zwei Osteopathieausbildungen und ließ sich 1993 mit einer Privatpraxis nieder.
Herr Seider, Sie führen eine Privatpraxis für Osteopathie. Können Sie Ih-ren Praxisalltag schildern?
„Ich habe etwa zehn Patienten am Tag, für die ich mir jeweils 45 Minuten Zeit nehme. Bei Erstpatienten, bei denen ausführlich die medizinische Vorgeschich-te erfragt wird, ist es eine Stunde. Ich gehe bei allen Patienten gleich vor. Ich frage nach den aktuellen Beschwerden. Wenn ich die Patienten schon länger kenne, dann genügt mir das dann erst mal. Ich frage unter Umständen noch nach Einzelheiten, aber im Großen und Ganzen mache ich eine Ganzkörperun-tersuchung und untersuche, wo der Körper seine Probleme am schlechtesten kompensieren kann - und von dort aus wird der Fall aufgearbeitet. Also wenn jemand mit Rückenschmerzen kommt, heißt das nicht unbedingt, dass ich am Rücken behandele.“
Die Osteopathie mit ihrer ganzheitlichen Sichtweise geht ja davon aus, dass Funktionsstörungen in einem Bereich des Körpers Beschwerden in einem ganz anderen Teil hervorrufen kann. Können Sie das an einem Bei-spiel verdeutlichen?
„Nehmen wir jemanden, der vor vielen Jahren mit dem Knöchel umgetreten ist. Die akuten Beschwerden sind irgendwann abgeklungen. Das Gelenk hat sich aber nicht völlig erholt und steht immer noch in einer relativen Fehlstellung. Das heißt nicht, dass man unbedingt gleich Beschwerden entwickelt, aber da wir auf unseren Füßen ja doch jede Menge Schritte gehen, können selbst relativ kleine Einschränkungen im Laufe der Jahre immer größere Verspannungsketten ver-ursachen. Bestimmte Muskeln können sich immer mehr verspannen. Irgend-wann wird das Becken schief gezogen. Das ist dann wie ein Haus mit einem schiefen Fundament. Die Wirbelsäule kann nicht mehr so schwingen, wie es eigentlich von ihrem Bau aus vorgesehen ist. Und auf dieser Grundlage können sich dann im Laufe der Jahre Rückenbeschwerden einstellen.“
Sie sind Facharzt für Orthopädie, arbeiten aber seit über 13 Jahren aus-schließlich osteopathisch. Wie sind Sie zur Osteopathie gekommen?
„Das ist so ein langsamer Werdegang gewesen. Ich bin über die manuelle Me-dizin zur Osteopathie gekommen. Ich habe nach weiteren Möglichkeiten ge-sucht und dann gleichzeitig zwei Osteopathieausbildungen gemacht - die eine bei einer belgischen Schule und die andere in Hamm, die sich damals mehr an amerikanischen Methoden orientierte.“
Ist es denn entscheidend, bei welcher Schule man seine Ausbildung ab-solviert?
„Die Osteopathie wurde nach Deutschland gebracht von Schulen der unter-schiedlichsten Länder: aus den USA, wo sie ursprünglich her kommt, Kanada, Belgien, Frankreich und den Niederlanden. In jedem Land hat sie sich anders entwickelt. So sind die Möglichkeiten der Untersuchung und Behandlung von Schule zu Schule unterschiedlich. Die wesentliche Philosophie dahinter ist aber die gleiche. Die meisten in Deutschland tätigen Schulen haben sich inzwischen zu einem Dachverband zusammengeschlossen, der die Grundzüge der Ausbil-dungen regelt und überwacht.
Thema: Volkskrankheit Rückenschmerzen Verband der Osteopathen Deutschland e.V.
Inwiefern fließt Ihre Facharztausbildung in Ihre osteopathische Arbeit ein?
„Die fließt eigentlich weniger in meine Arbeit als Osteopath ein. Meine orthopä-dische Facharztausbildung kann ich benutzen, um Patienten über anstehende Operationen zu informieren oder um mögliche Operationsfolgen exakter zu lokalisieren. Oft helfen mir meine Kenntnisse über die Besonderheiten von O-perationen spezielle Strukturen im Bereich des Bewegungsapparats zu behan-deln: Wenn man weiß, wo zum Beispiel ein Orthopäde, der ein Kniegelenk nicht optimal geöffnet bekommt, noch einen Schnitt ansetzt, dann kann man nach der Operation sehr viel gezielter an irgendwelche Probleme herangehen, indem man die Strukturen entspannt. Aber normalerweise ist die orthopädische Facharztausbildung für die Behandlung von Rückenschmerzen, so wie ich sie durchführe, eigentlich nicht besonders hilfreich.“
Wo liegen denn die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Osteopathie und Orthopädie?
„Genau genommen ist der Inhalt der orthopädischen Facharztausbildung über-wiegend operativ. Insofern kann man die Fähigkeiten, die man dort erlernt hat, in einer Praxis wie der meinen wenig umsetzen. Die Osteopathie ist dagegen ein Zugang, der den gesamten Menschen in Betracht zieht und auf die Ursa-chen der Beschwerden des Patienten zielt. Von daher ist sie auf alle Gewebe des Körpers anwendbar und nicht auf den Bewegungsapparat eingeschränkt. Sie ist deshalb erheblich effektiver als die Möglichkeiten, die man in der rein orthopädischen Fachausbildung lernt. Spritzen werden von den Patienten ja zunehmend abgelehnt. Viele Orthopäden manipulieren Gelenke unter den Ge-sichtspunkten der Chirotherapie, aber selbst diese Fähigkeiten werden in der orthopädischen Facharztausbildung nicht vermittelt, sondern man muss sie sich in der Freizeit aneignen.“
Wann ist denn eine Operation auf jeden Fall angezeigt?
„Es gibt natürlich zwingende Gründe für eine Operation. Ich hatte zum Beispiel eine Patientin, die starke Rückenschmerzen hatte, die osteopathisch nicht be-herrschbar waren. Als sie auch Fieber bekam, stand dann die Frage im Raum, ob sich in der Wirbelsäule eine Infektion gebildet hat. Da sind natürlich die Möglichkeiten der Osteopathie überhaupt nicht mehr gefragt. Ich habe sie stati-onär eingewiesen, denn diese Verdachtsdiagnose musste natürlich abgeklärt werden. Die Patientin hatte wirklich eine bakterielle Entzündung. Sie wurde operiert, die Bandscheibe und der betroffene Wirbel mussten entfernt werden und die Wirbelsäule in diesem Bereich versteift. Ohne eine Operation wäre ihr nicht mehr zu helfen gewesen.
Oder wenn jemand einen massiven Bandscheibenvorfall hat, der mit ausge-prägten Lähmungen einhergeht, mit Blasen- oder Mastdarmlähmung - da darf man überhaupt nicht mehr versuchen konservativ, das heißt ohne eine Opera-tion heranzugehen. Die Leute müssen auf der Stelle operiert werden. Wenn es also gilt, größeren Schaden abzuwenden, dann muss operiert werden. Es gibt auch immer wieder Situationen, in denen die konservativen Möglichkeiten so-weit ausgeschöpft sind, dass man keine Verbesserungsmöglichkeit mehr sieht. Wenn sich der Patient in seiner Lebensqualität eingeschränkt fühlt und es ei-nen Befund gibt, der durch eine Operation beseitigt werden kann, wie zum Bei-spiel bei einem schweren Hüft- oder Kniegelenksverschleiß, dann kann man den Patienten auch zur Operation schicken.“
Thema: Volkskrankheit Rückenschmerzen Verband der Osteopathen Deutschland e.V.
Haben Sie ein Beispiel dafür, wie die Osteopathie eine Operation verhin-dern oder hinausschieben kann?
„Eine 90-jährige Patientin mit einem sehr schweren Verschleiß des Kniegelenks mit Instabilität und Rückenschmerzen. Ich war damals der Meinung, dass man dieser Patienten am besten helfen würde, wenn man trotz ihres fortgeschritte-nen Alters ein künstliches Knie einsetzen würde. Die Patientin hat sich dann in der Klinik vorgestellt, und dort wurde gesagt, ihr Hauptproblem wäre nicht das Knie, sondern eine Einengung die Rückenmarkskanals, und sie würden sie nicht operieren. Ich war zwar grundsätzlich anderer Meinung, aber die Patientin war darauf hin auch nicht mehr bereit sich operieren zu lassen. Seitdem sind fünf oder sechs Jahre vergangen und sie wird weiter praktisch ausschließlich mit Osteopathie und Krankengymnastik behandelt, wobei die Krankengymnas-tin auch osteopathisch tätig ist. Sie ist sehr zufrieden mit ihrer damaligen Ent-scheidung sich doch nicht operieren zu lassen, da die Beschwerden jetzt durchaus erträglich sind.“
Wie hoch ist der Anteil an Personen, die mit Rückenschmerzen in Ihre Praxis kommen?
„Rückenschmerzen in der einen oder anderen Form haben fast alle meine Pa-tienten. Dadurch dass ich Orthopäde bin, ist natürlich der Anteil der Leute, die wegen Schmerzen im Bewegungsapparat zu mir kommen, relativ hoch. Inso-fern ist die Erwartungshaltung, die mir entgegengebracht wird, eine andere als bei jemandem, der nur „Osteopath“ oder „Arzt für Innere Medizin“ auf dem Pra-xisschild stehen hat und osteopathisch tätig ist.“
Sie behandeln auch Säuglinge in Ihrer Praxis. Haben die auch Rücken-schmerzen?
„Wenn Kinder schreien, dann wird immer gesagt: „Das sind die Blähungen oder Bauchschmerzen“. Wer sagt mir, dass Kinder nicht Kopfschmerzen, Rücken-schmerzen oder Ischias haben? Wenn wir Erwachsenen das haben, warum wird das immer in Verbindung gebracht mit Verschleißerscheinungen?
Meine Erfahrungen gehen einfach dahin, dass Kinder genauso alle möglichen Schmerzen haben können, wie wir Erwachsenen auch. Ich unterhalte mich mit so einem Organismus. Ich nehme eine Menge wahr und in den Geweben sind erheblich mehr Informationen gespeichert, als man sich vorstellen kann. Ich überrasche häufig Patienten damit, dass ich ihnen Symptome schildere, die sie mir überhaupt noch nicht erzählt haben. Neulich war eine Patientin mit Schul-terschmerzen da. Ich habe sie untersucht und zu ihr gesagt, sie müsste auch Magenschmerzen haben. Und sie sagte, das wäre richtig.
Man kann Schmerzen mit einiger Übung fühlen. Deswegen bin ich mir relativ sicher, dass selbst Säuglinge Rückenschmerzen haben. Die Gründe dafür muss man natürlich herausfinden. Meistens hat man bei kleinen Kindern nicht so viel Zeit, da sie schneller ungeduldig werden und anfangen sich zu wehren.
Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten einer osteopathischen Behand-lung bei Rückenschmerzen ein?
„Das ist natürlich eine schwere Frage. Sagen wir mal, wenn jemand mit akuten Beschwerden von der Straße kommt, den ich vorher noch nie gesehen habe, dann, würde ich sagen, hat er eine 70prozentige Chance mit drei bis vier Be-handlungen beschwerdearm bzw. beschwerdefrei zu werden.
Das hängt natürlich auch vom behandelnden Osteopathen ab. Ich kann nicht für meine Kollegen sprechen. Ich denke nicht, dass man Orthopäde sein muss, um Rückenschmerzen osteopathisch gut zu behandeln. In Einzelfällen mag das zwar hilfreich sein, aber es gibt auch sehr gute Therapeuten, die einen anderen Hintergrund haben.“
Thema: Volkskrankheit Rückenschmerzen Verband der Osteopathen Deutschland e.V.
Viele Menschen mit Rückenbeschwerden suchen einen Therapeuten für sich oder auch für ihre Angehörigen. Kann man sich in Ihrer Praxis mel-den?
Leider kann ich schon seit einigen Jahren keine neuen Patienten mehr auf-nehmen. Dann würde die Qualität meiner Arbeit zu sehr leiden und niemand wäre glücklich damit. Meine Helferinnen können auch nicht mehr die zahlrei-chen Anfragen nach anderen Therapeuten bewältigen. Auf der Therapeutenlis-te des VOD finden sich jedoch viele kompetente und geprüfte Behandler, so dass man darüber jemanden in seiner Nähe finden kann.
Vielen Dank für dieses Interview.
Thema: Volkskrankheit Rückenschmerzen

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